26. September 2024
Interview mit Marius Muff
Geschäftsleiter SPITEX Region Konolfingen
Worauf müssen pflegende Angehörige bei einer Anstellung achten?
Ohne pflegende Angehörige würde unser Gesundheitswesen kollabieren, ist Marius Muff, Geschäftsführer der Spitex Region Konolfingen, überzeugt. Seit 2018 nimmt diese Spitex pflegende Angehörige unter Vertrag. Nun hat Marius Muff für diesen Geschäftszweig eine eigene Firma gegründet. Deren Einnahmen sollen ausschliesslich für Pflegefälle und die pflegenden Angehörigen eingesetzt werden. Er erklärt zudem, auf was pflegende Angehörige bei einem Arbeitsverhältnis achten sollten.
Marius Muff, seit 2018 nimmt die Spitex Region Konolfingen pflegende Angehörige unter Vertrag. Weshalb?
Einerseits ist es eine emotionale Sache. Die meisten Angehörigen pflegen aus intrinsischen Gründen wie Liebe und Zuneigung. Es ist also ein Herzensentscheid, wie die Masterarbeit «Eine Anstellung bei der Spitex: Eine Chance für pflegende Angehörige?» von Barbara Petersen (Gerontologie, Berner Fachhochschule, Institution Alter) 2018 aufzeigt.
Andererseits ist es eine Entlastung für das ambulante Setting. Gut informierte und instruierte pflegende Angehörige (pA) leisten einen systemrelevanten Anteil im Gesundheitswesen. Je nach Studie sind es bis zu 80 Mio. Pflegestunden im Jahr. Wenn pflegende Angehörige beispielsweise in den nächsten Jahren auch nur 10 % davon wieder abgäben, würde unser Gesundheitswesen kollabieren.
Wie werden diese Anstellungen finanziert?
Mit den Beiträgen der Krankenversicherungen sowie der Übernahme der Restkosten durch den Kanton. Da wurde aus meiner Sicht allerdings ein Fehlanreiz geschaffen. Denn die Beiträge sind für alle Firmen gleich, ob es nun eine kommerzielle Agentur mit Sitz in Zürich, Zug oder Luzern ist, die nur eine Anstellung anbietet, oder eine nicht gewinnorientierte Organisation, die kostenlose und sehr umfassende Zusatzleistungen bietet. Leider berücksichtigt der Kanton die erbrachten Leistungen bei der Restkostenfinanzierung nicht.
Und was sagt die Spitex dazu?
Spitex Schweiz forderte unlängst verbindliche Rahmenbedingungen für die Anstellung von pflegenden Angehörigen. Dazu gehört auch ein Kurs in Pflegehilfe oder eine andere gleichwertige Ausbildung, die pflegende Angehörige absolvieren müssen. Der Verband stellte aus meiner Sicht allerdings spät fest, dass seine Mitglieder in diesem Thema dadurch massiv benachteiligt wurden.
Weshalb?
Weil Anstellungsabsprachen gemäss der Wettbewerbskommission WEKO illegal sind. Der kantonale Spitexverband hat uns unlängst darauf hingewiesen.
Aber Ihr Konzept bewährt sich?
Es funktioniert, wir lernen aber immer noch dazu. Je mehr pflegende Angehörige ihre Rolle im Pflegeprozess einnehmen können, desto wirksamer und wirtschaftlicher wird die Situation für alle Beteiligten. Und auch die Zufriedenheit steigt.
Sie haben nun auch eine eigene Firma, die IaAP GmbH, gegründet, die sich als Non-Profit-Organisation versteht. Was hat es damit auf sich?
Es geht darum, dass die Einnahmen ausschliesslich für die pA’s und ihren Angehörigen bzw. die Betroffenen eingesetzt werden. Eine Gewinnausschüttung ist gemäss Statuten nicht zulässig.
Mittlerweile bieten viele Firmen und Organisationen solche Verträge schweizweit an und machen auf Social-Media-Kanälen zünftig Werbung dafür. Was sagen Sie dazu?
Seit einem Bundesgerichtsentscheid (BGE 145 V 161 2019) zur Bezahlung von pflegenden Angehörigen entstanden etliche Firmen. Nachdem 2023 der Administrativ-Vertrag in Kraft gesetzt wurde, entstand sogar ein richtiger Schub. Die Firmen, die nicht zu einem Spitex-Verband gehören, hatten einen grossen Wettbewerbsvorteil, da sie nach marktwirtschaftlichen Kriterien vorgehen und ein entsprechend aggressives Marketing betreiben können. Es geht dabei leider aber um Marktanteile, Wachstum und Gewinnoptimierung und nicht um die Bedürfnisse der betroffenen Menschen, die von ihren Angehörigen gepflegt werden.
Worauf muss ich eigentlich achten, wenn ich mich als pflegender Angehöriger anstellen lassen will?
Sicherlich, welche Leistungen eine Firma neben der Anstellung noch bietet. Dazu gehört beispielsweise eine Bezugsperson, die Sie regelmässig vor Ort besucht. Oder Entlastungsmöglichkeiten, wenn Sie sich erholen wollen. Die Pflege sollte zudem auch gewährleistet sein, wenn Sie länger ausfallen. Es sollte vermieden, dass die zu pflegende Person deswegen in ein Spital eintreten müsste, damit die Pflege weitergeführt wird. Auch der Austausch mit anderen pflegenden Angehörigen ist wichtig. Und last but not least: Gibt es eine Notfallnummer, an die Sie sich wenden können, wenn es der zu pflegenden Angehörigen plötzlich schlechter geht?
Wo liegen allfällige Stolpersteine bei einer Anstellung?
Was alles unter Pflege verstanden wird, ist im Krankenversicherungsgesetz KVG definiert. Und das ist manchmal deutlich weniger als pflegende Angehörige meinen. Zudem bereitet die Einordnung in den Pflegeprozess einigen doch Mühe. So müssen Sie beispielsweise auch administrative Aufgaben erledigen wie das Erstellen von Verlaufsberichten. Zudem nimmt die fallführende Bezugsperson Einfluss auf die pflegerische Tätigkeit, und das betrifft oft auch die Privatsphären der zu pflegenden Person wie der pflegenden Angehörigen.
Worin unterscheiden Sie sich aus Ihrer Sicht von anderen Anbietern?
Sicher in der Firmenphilosophie. Die Einnahmen werden für ein sehr umfassendes Angebot verwendet, das auf die individuelle Situation der pflegenden Angehörigen ausgerichtet werden kann. Dies ist möglich, weil verschiedene Firmen in die Prozesse integriert sind, welche die pA’s im Zentrum sehen und nicht den Gewinn.
Worin zeichnet sich die Spitex Region Konolfingen bzw. die IaAP besonders aus? Was bieten Sie den pflegenden Angehörigen?
Das Dienstleistungsangebot für pflegende Angehörige der IaAP darf als umfangreich bezeichnet werden. Zudem ist es kostenlos. Dazu gehören die Beratung und die Klärung von Fragen zu Hause, eine umfassende Beurteilung, die als Grundlage für Instruktionen und die Schulung dient, und eine Bezugsperson, welche die Fallführung innehat und die Einschätzung durchführt sowie für sämtliche Anliegen zuständig ist. Die Bezugsperson begleitet die pflegende Angehörige nicht nur, sondern schult und instruiert sie vor Ort. Pflegenden Angehörigen bieten wir ausserdem die Möglichkeit, eine auf Ihre jeweilige Situation ausgerichtete Ausbildung zu machen. Weiter entlasten wir pflegende Angehörige durch das Projekt «Zeit schenken». Wir machen ebenfalls ein Belastungsinventar der betreuenden, angehörigen Person (Zarit Scale) mit einem Wirkungsvergleich nach drei bis sechs Monaten. Ferner bieten wir an Teamsitzungen Schulungen sowie die Möglichkeit, sich austauschen zu können. Pflegende Angehörige könnten auch externe Kurse besuchen. Und schliesslich bieten wir ihnen eine Notfallplanung inklusive eines 7x24-Std-Pikettdienstes. Wir versprechen uns damit eine Entlastung der Hausärzte. Wir haben zudem eine Notfallplanung, wenn der pflegende Angehörige ausfällt, damit die zu pflegende Person zu Hause bleiben und ein (unnötiger) Spitaleintritt vermieden werden kann.
Wie ermitteln Sie den Umfang der bezahlten Pflegestunden von Angehörigen?
Genauso wie es eine Spitexorganisation macht: mit dem interRAI HomeCare. Dieses Instrument ermöglicht uns die Bedarfsabklärung für die Pflege einer Person nach Art. 32 des Krankenversicherungsgesetzes KVG.
Und was wird nicht vergütet?
Die sogenannten Betreuungszeiten, die oft höher sind als der definierte Pflegebedarf.
Sie nehmen aktuell nur Leute unter Vertrag, deren zu pflegende Angehörige im Einzugsgebiet der Spitex Region Konolfingen leben bzw. wohnen. Weshalb?
Weil das umfassende Dienstleistungsangebot nur in unserem Einzugsgebiet im vollen Umfang möglich ist. Beispielsweise die Übernahme der Pflege oder der 7x24-Std-Pikettdienst.
Werden Sie dies ändern?
Vereinzelt sind Ausnahmen möglich, was das Einzugsgebiet betrifft. Eine generelle Ausweitung ist aber nicht vorgesehen. Denn sonst müssten wir das Angebot ausdünnen, was ein Abbau bei der Qualität bedeutet. Und das wollen wir nicht!
Ein Blick in die Zukunft: Wie soll sich der Bereich Pflegende Angehörige aus Ihrer Sicht weiterentwickeln?
Pflegende Angehörige sind system-relevant und verdienen professionelle Unterstützung. Ich würde aber die Fehlanreize eliminieren. Beispielsweise mit einer abgestuften Abgeltung durch die Kantone als Restkostenfinanzierer. Eine Agentur, die lediglich eine Anstellung anbietet, hat gar keine Restkosten. Für mich heisst dies, dass es abgestufte Tarife geben müsste. Wer also ein umfangreiches Angebot für pflegende Angehörige hat, erhält mehr Geld. Die Kantone könnten dies schnell umsetzen. Bei den schweizweiten Tarifen der Versicherungen ist der Bund zuständig, dies dauert deshalb sicher länger, vermutlich leider sogar sehr viel länger.
Kasten
Checkliste für pflegende Angehörige (pA)
Auf was müssen pflegende Angehörige bei einer Anstellung achten? Nachfolgend einige Punkte:
• Anstellungsbestimmungen: Entschädigung, Lohnfortzahlungen bei Krankheit/Unfall, Teilnahme an Betriebsanlässen,
• Sicherheit: Übernimmt der Arbeitgeber die Pflege umgehend, wenn ich als pA ausfalle? Besteht ein Angebot, wenn sich der Zustand des Angehörigen rasch verschlechtert?
• Pflegerische Notfälle: Bietet der Arbeitgeber innerhalb von 30/60 Minuten eine tertiäre Mitarbeiterin vor Ort?
• Bezugsperson: Gibt es eine Ansprechperson, die mich unterstützt, berät und die alles erledigt? zB Bedarfsabklärung erstellen, Klärungen mit dem Arzt, Support beim Verlaufsbericht, Klärungen mit den Versicherungen.
• Entlastung: Besteht ein Entlastungsangebot für mich? Wenn ja, ist es kostenlos?
• Ausbildung/Weiterbildung: Kann ich auf Kosten des Betriebes eine Ausbildung oder Weiterbildungen besuchen?
• Austauschmöglichkeiten: Kann ich mich mit anderen pA’s austauschen? Finden Teamsitzungen für pA’s statt?